Leben mit DIS #45: Zu Hause

©Pexels/ Nandhu Kumar

Seit einem Monat wohnen wir in der neuen Wohnung. Wohnen wir schon? Noch ist vollkommenes Chaos. Noch stehen überall Kartons herum und Möbel sind nicht aufgebaut.

Und doch fühlen wir uns wohl hier. Es ist aber alles neu, als wären wir in einer neuen Stadt, dabei ist es nur von einem Stadtrand zur ganz anderen Seite, fast  1 ½ Stunden brauchten wir mit öffentlichen Verkehrsmitteln zwischen diesen beiden Wohnungen. Das ist jetzt nicht mehr notwendig. Wir leben in einem Stadtteil, in dem wir noch nie gelebt haben. Hier triggert die Umgebung kaum, das ist neu. Fast irritiert es uns. Nicht nur fast, es irritiert uns, so als würde eine Selbstverständlichkeit in unserem Leben plötzlich weg sein. Nein, das fehlt nicht, dennoch fehlt die Sicherheit, dass es so bleibt. Wer weiß? Freude ist darüber vorhanden, aber verhaltene Freude..

Auch mit den Nachbar:innen sind wir noch nicht angekommen. Über 55 Jahre waren wir auf uns gestellt (ja unsere Kindheit, vor allem unsere Kindheit, war da keine Ausnahme, sondern im Gegenteil jene Grundlage für die Einsamkeit unseres Lebens. Und plötzlich sind wir eingebunden, bekommen Hilfe, werden eingeladen. Es ist schwierig all dies anzunehmen, zu glauben, dass es wahr ist. Täglich nahezu rechnen wir damit aus diesem Traum zu erwachen und Ablehnung und Aggression von ALLEN zu erleben. Wir bedanken uns gefühlt 1000de Male für kleine Entgegenkommen. Es fällt uns selbst auf, dass das übertrieben ist, aber wir glauben einfach (noch) nicht an die Beständigkeit dieses eingebunden seins. Es ist unsere tief in uns verwurzelte Erfahrung unserer Kindheit, selbst keinen Wert zu haben. Eine Erfahrung, die wir vielleicht auch mit der Außenseiterinnenposition in der Gesellschaft, in der wir uns durch die Berufsunfähigkeit befinden, immer wieder  machen. Zumindest bei einigen ist es hier anders.

Aber wir schnuppern erst ein zu Hause, sind in der Probephase, haben noch kein Gefühl dafür, wie viel Kontakt wir brauchen und wie viel Rückzug und unser eigenes Leben. Ja, das eigene Leben ist aktuell so nah und so fern zugleich. Alle Pläne hier zu schreiben, ein Engagement gegen Gewalt, greifbar nahe und doch noch unfassbar. Und wie viel Spaß und Unbeschwertheit darf sein, kann sein, es ist so eine andere Wahrnehmung.

Was ist unser Leben? Wir dachten, die Schwere gehört zu uns, kann eine neue Wohnung, einige liebe Leute um uns, das einfach aus radieren? Was bedeutet Leben mit dieser Erfahrung einer Leichtigkeit, die wir noch nie kannten, für uns? Ist das oberflächlich? Es scheint, dass wir leben neu definieren müssen, oder es definiert sich neu in uns. Langsam, oder eigentlich so schnell, dass wir es nicht erfassen, was all dies für uns bedeutet. Wir leben aktuell eine Oberflächlichkeit von Personen, die sich orientieren versuchen. Das neu entdecken macht Spaß, aber es irritiert auch. Was wir tun wollen ist uns Zeit schenken, Zeit anzukommen, Zeit, das vorherige Leben mit diesem in Einklang zu bringen. Zeit diese Änderungen anzunehmen. Vielleicht ist das langsame Einrichten und Kartons auspacken unser nach außen gekehrtes Inneres? Es braucht ganz viel Zeit anzukommen, nicht nur in einer neuen Wohnung, sondern in einem neuen Leben, welches den Kontakt zu den vorherigen Jahrzehnten nicht verliert, sondern vielmehr darauf aufbauen kann. Es ist ein Leben, das wir uns schwer erarbeitet haben, ein wichtiger Zwischenschritt, jenes Leben zu führen, das wir uns vorstellen mit den Möglichkeiten, die wir haben. Ein großes herausforderndes Projekt. Wie schön!

25 Gedanken zu „Leben mit DIS #45: Zu Hause“

  1. Liebe Benita Wiese,
    das freut mich sehr für Euch, dass Euer jahrelanges Projekt mit unschönen Episoden doch noch zu einem gewissen Abschluss gekommen ist, wo Ihr Euch jetzt wohlfühlen und einfinden könnt! Ein Abschluss und gleichzeitig ein hoffnungsvoller Neubeginn. Herzlichen Glückwunsch zum Ankommen! Schade, dass dieser Neuanfang von einem schmerzhaften Unfall begleitet wurde. Aber wer weiß, manchmal erschließt es sich erst im Nachhinein, wofür so manches gut war, auch wenn wir es nicht unbedingt so erleben wollten!

    Lebt Euch weiterhin gut ein und freut Euch über die neuen Kontakte, wenn sie auch ungewohnt sind! Sie führen Euch hoffentlich in guter Weise aus der lebenslangen Isolierung in eine erfreulichere Situation. Das wünsche ich Euch von Herzen!
    Herzlichen Gruß, Michael

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    1. Lieber Michael,
      Vielen herzlichen Dank für deine besonders lieben Zeilen und Wünsche.
      Ja, dieser Unfall hat uns in der Beziehung zur Mutter einiges gezeigt.
      Emotional ist es weiterhin eine Hochschaubahn in der neuen Wohnung. Dennoch sind wir zuversichtlich auch die Balance zwischen Rückzug und unter Leuten sein zu lernen, ebenso wie auf unsere Bedürfnisse zu achten.
      Herzliche Grüße
      „Benita“

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  2. Wow, das klingt ganz toll! Herzlichen Glückwunsch zu diesem Neuanfang! 🥂💜👍 Darf ich noch fragen, wie ihr zu diesem Bauprojekt gekommen seid? Könntet ihr vielleicht Tipps geben, wie sowas zu realisieren oder ähnliches zu finden wäre? Nur, wenns leicht geht selbstverständlich. All the best 🍀💫

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    1. Vielen herzlichen Dank für die lieben Wünsche. 😃💖 Wir hatten 2017 etwas gesucht, um unserer Einsamkeit zu entkommen und zugleich jener alten Wohnung, die wir nie leiden konnten. Wir haben dann auf Ecosia nach Baugruppen gesucht. Zeitgleich hatten wir Glück, weil eine Bekannte knapp davor in eine Baugruppe gezogen war, so sind wir darauf gekommen. Wir haben die Gruppe nicht initiiert, sondern uns angeschlossen, als der Bauplatz bereits gekauft war und das Projekt bereits im Laufen war. Was hier selten ist, dass es ein gefördertes Wohnhaus ist (Genossenschaft), wodurch es uns finanziell überhaupt erst möglich wurde. Viele Wohnprojekte entstehen im Eigentum und sind dadurch leider nur für Besserverdiener:innen, oder wenn Eltern unterstützen können und wollen.
      Gefunden haben wir unser Projekt auf einer Homepage der Grünen. ….. Allerdings braucht es schon Ausdauer und gute Nerven. Zumindest bei uns gab und gibt es auch einige gravierende Probleme. Wir wären nicht mehr dabei, hätten wir in den fünf Jahren etwas für uns passendes anderes gefunden. Heute sind wir froh, dass wir durchgehalten haben, trotz mancher kindischer Streitereien. Unter unserem Stichwort gemeinsames Wohnen bzw. Wohnung findest du einiges zu unseren inneren Kämpfen um das Projekt, falls du es noch nicht gelesen hast.
      Bei Interesse an einer Baugruppe würden wir heute noch viel mehr Wert auf das soziale Miteinander im Planungsprozess und demokratische Strukturen der Mitbestimmung legen, als wir es getan haben. Vielleicht wären wir dann aber ausgestiegen?
      Hoffentlich hilft dir diese Kurzfassung von sehr komplexen Vorgängen etwas weiter? Bei weiteren Rückfragen kannst du uns auch gerne ein Mail schreiben. Unter Kontakt auf unserem Blog findest du unsere Adresse.
      Ganz liebe Grüße
      „Benita“

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      1. Liebe “Benita Wiese”,
        herzlichen Dank noch für die ausführliche Antwort und Infos! 🙂
        Hab schon gegoogelt. Es gibt mit entsprechendem finanziellen Hintergrund einige Möglichkeiten sich in Wien Baugruppen anzuschließen. Kann mir vorstellen, dass das ein ziemliches Wagnis und auch aufreibender Prozess war. Umso schöner, dass ihr nun die Früchte ernten könnt! ☺️
        Weiterhin gutes Gelingen und alles Gute!
        penzingerin / smithareens 🙋

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        1. Vielen herzlichen Dank. Wie der neue Beitrag zeigt, ist es eine emotionale Berg-Tal-Fahrt. Und ja, tatsächlich ist es etwas besonderes, dass diese Gruppe eben nicht im Eigentum mit ausreichend finanziellem Aufwand organisiert ist. Es ist halt auch zum Teil schwieriger dadurch.

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  3. Schöööööön von euch zu hören und obendrein so viel Erfreuliches! Klar, die Balance zwischen Nähe und Freiräumen muss man in neuen Situationen immer erst finden. Wenn alle gleichzeitig neu einziehen, ist das für alle so und es bildet sich eine ganz neue Gruppendynamik. Das finde ich einerseits sehr angenehm, weil alle beim Legen des gemeinsamen Grundsteins beteiligt sind, andererseits ist es natürlich anstrengend, was aber der Mühe wert ist, wenn dadurch ein Gefüge entsteht, in dem man sich wohlfühlt. Ich wünsche weiterhin viel Freude und Erfolg im neuen Leben ❤

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    1. Oh wie lieb, danke dir 😊🤗💖
      Ja, das Schreiben hat uns schon so sehr gefehlt, aber die Ruhe dafür auch. Nach der Rückgabe der alten Wohnung vor ca einem Monat waren wir nur extrem erschöpft. Dann sehr anstrengende Weihnachten inkl Unfall (bei Erschöpfung ist es besser sich nichts vorzunehmen, sondern leise zu treten. 😉 Naja, es geht schon wieder ganz gut.) ….. Ja, die Arbeit an einer Gemeinschaft ist unbedingt der Mühe wert, auch wenn wir es lieber harmonischer hätten, als es ist. Dennoch haben wir so viel Verbesserung gegenüber der alten Wohnung bereits jetzt, dass es die Unannehmlichkeiten leicht aufwiegt.
      Herzlichen Dank für deine lieben Wünsche und hoffentlich gibt’s ab sofort wieder öfter von uns zu lesen. Das ist unser Plan. 😃🌻

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        1. Naja, wir hatten noch Glück gehabt, ein Schneidezahn ist kaputt (zersplittert), musste aber glücklicherweise nicht gezogen werden und die Hand war 14 Tage in der Schiene, aber glücklicherweise keine Absplitterung vom Knochen, das wäre im Handgelenk wirklich schlimm gewesen. Die Hand tut mittlerweile nur mehr wenig weh und ist fast schon ganz belastbar. Das war wirklich großes Glück im Unglück. Jetzt brauchen wir noch eine Krone, aber auch Glück, dass es nur ein Zahn war und nicht beide Schneidezähne. Den 24. am Abend haben wir dann bei der Zahnärztin und im Unfallkrankenhaus verbracht. Der Schock war groß, noch dazu weil nicht gleich klar war, ob die Hand operiert werden muss oder nicht. Lieben Dank fürs Nachfragen. 💖 …..

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          1. Oje, unerwartete Spitalsbesuche gehören auch nicht zu den großen Freuden des Lebens, aber am 24 waren vielleicht wenigstens nicht so viele Leute dort. Alles Liebe für eine baldige Total-Heilung und Verarbeitung des Schocks .

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            1. Hm, wir fanden es waren ausreichend Leute dort, aber vielleicht kommt man am 24. leichter ins miteinander reden und einander seelisch beistehen als sonst? Vielen herzlichen Dank für dein Mitgefühl und Trost. ….. Vielleicht kommt ja noch ein Text dazu, weshalb das Ganze. So unnötig, obwohl es Erkenntnisse zu unserer Mutter gab. ….. Sorry, cliffhanger.

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