Leben mit DIS/DDNOS #25: Retraumatisierung, Scham und Verwirrung

Es war der 78. Geburtstag unserer Mutter. Wir hatten seitdem die Wohnung der Großtante geräumt war unsere Mutter nicht mehr gesehen. Es war der Plan, dass wir nach der Verlassenschaft das auf einander treffen wieder auf das gewohnte, einigermaßen erträgliche Maß von einmal jährlich zurückstufen werden.

Und nachdem wir ohnedies nicht viel mit ihr sprechen können, ohne in Streit zu geraten, war es uns lieber uns der Familienfeier mit meinem Bruder und dessen Familie anzuschließen, wenn sie zu Besuch fahren. Soweit ein kluger Plan, der auch einigermaßen zu gelingen schien. In größerer Runde bleibt jedes Gespräch so schön an der Oberflächlichkeit und im Grunde ist es ohnedies für alle ein Pflichtbesuch. Gerne und von Herzen fährt dort niemand hin. Wir sind alle käuflich. Die Mutter zahlt allen ein Jahr dafür, dass sie irgendwann Besuch bekommt bzw. dass der Kontakt nicht ganz abreißt und um sich selbst vorlügen zu können, dass sie eine gute Mutter war und ist. Sehr traurig und ich bekäme lieber Liebe als Geld, aber die hat sie nicht anzubieten. Vielmehr geht es ihr wohl darum den Schein zu wahren und darauf zu dringen endlich die ersehnte Absolution von ihren Kindern zu erhalten, ohne jedoch einzusehen, dass sie Fehler gemacht haben könnte. Und so sind die Treffen ein Absitzen der Zeit, ein an einander vorbei reden oder von einer Oberflächlichkeit getragen, die kaum zu ertragen ist, nur um heikle Themen zu umgehen.

Wir hatten vor einigen Jahren beschlossen, dass wir mit der alten Frau nicht mehr streiten wollen, weil es eh nichts bringt und dass wir sie dennoch einmal jährlich besuchen. Vielleicht um nicht zu verpassen, dass sie uns vor ihrem Tod doch noch um Verzeihung bitten möchte. So lügen sich alle etwas vor und leben mit dem Wissen um ein Ende des Spektakels. Früher oder später. Zudem brauchen wir Mamas Bitte um Verzeihung gar nicht um ihr zu verzeihen. Das würde uns viel zu sehr an sie fesseln. Wäre es so, könnten wir sie überhaupt nicht treffen.

Hier geht es aber überhaupt nicht um Übergriffe unserer Mutter.

„Ich quäle mich mit diesem Beitrag. Schreibe herum, ohne auf den Punkt zu kommen, was uns schmerzt. Wollen beschreiben ohne dass es weh tut, aber auch gar nicht davon schreiben, weil wir uns schämen, dass wir noch immer nicht adäquat auf Übergriffe reagieren können.“ hat ein Innenwesen zuvor hier im Text angemerkt. Einigermaßen dissoziiert schreiben wir weiter. Der Bildschirm steht vor uns. Die Hände gehören nicht zum Körper. Sie tippen. Bewusste Gedanken sind davor nicht vorhanden. Zumindest nicht immer. Es tippt uns. Das geschieht, wenn Innenwesen unbedingt zu Wort kommen wollen, kommen müssen und wir das gar nicht wollen.

Wir sehen uns selbst zu wie es geschieht, dass der Körper sich selbständig macht. Ob wir es zulassen können? Wir haben Angst zu schreiben.

Gut, wir werden wohl mithelfen müssen. Bis Frühjahr 2019 hatten wir acht ganze Monate relativ viel Kontakt mit unserer Mutter aufgrund dieser Verlassenschaft der Großtante. Dieser Kontakt mit der Mutter brachte auch vermehrten Kontakt mit ihrem Lebensgefährten, der ca. ½ Jahr älter ist als sie. Irgendwann begann er umzuschwenken und uns die Gewalt unserer Kindheit zu glauben. Sagte er zumindest. Ergo er stellte sich gegen seine Lebensgefährtin und stärkte uns den Rücken. Das tat so enorm gut. Wir waren so dankbar, so unendlich dankbar. Begannen uns in seiner Gegenwart sicher zu fühlen. Dachten auch dass er uns wohl weiter helfen würde, wenn Mama wieder aggressiv wird, wie er es schon getan hatte. Irgendwann als unsere Mutter über uns zu bestimmen begonnen hatte während der Zeit als wir sie öfter sahen, sagte H.: „Wie sprichst du mit „Benita“?“ Wir dachten wirklich, er hat das innere Leid erkannt und wollte uns helfen. So begannen wir ihm tatsächlich etwas zu vertrauen. Kurz schrieben wir einander Mails, weil wir ihm erklären wollten, wie schwierig diese Treffen mit Mama für uns seien. Wir hofften so, dass er versteht und vielleicht auch auf unsere Mutter einwirken könne. Bis nach Kurzem eine Aussage in einem Mail kam, die uns schockierte. Er schrieb als die Verlassenschaft erledigt war, dass es wohl besser sei, wenn wir einander jetzt weniger sehen, weil er andere als väterliche Gefühle für uns empfindet.

Wie grausam ist das? Er kennt unsere Geschichte. Weshalb schreibt er uns das? Das kann nur dann irgendwie sinnvoll sein, wenn er hofft, dass ich es erwidere?! Wir waren nur fertig. Da erst erkannten wir, dass er immer wieder versucht hatte zu uns besonders nett zu sein, aber durchaus auch übergriffig war und uns so nebenbei berührte. Da wir noch immer ganz langsam lernen, wie sich Menschen uns herzlich und ohne sexuelle Hintergedanken nähern könnten, haben wir die Berührungen wahrgenommen aber nicht einordnen können. Als Kind kannten wir ja nur übergriffige Berührungen oder gar keine. Wir erkannten H’s Übergriffe als solche nicht. Wie also hätten wir sie in der Situation zurückweisen können? Wir konnten es nicht!

Unsere Art uns vor Übergriffen von Männern zu schützen, die bereits seit vielen Jahren gut wirkt ist jene, dass wir (übergriffigen) Männern gar nicht zu nahe kommen. Wir lernen sie NICHT KENNEN, gehen ihnen aus dem Weg.

In diesem Fall war es unmöglich H. nicht zu begegnen als Lebensgefährte unserer Mutter. Bzw. war es unmöglich ihn kennen zu lernen und aufzustehen und zu gehen, wenn er uns zu unangenehm wurde. Außerdem waren wir ja schon wegen unserer Mutter bei jedem Treffen höchst angespannt. Unser Instinkt würde uns ja bereits sagen, dass es nicht gut ist unsere Mutter überhaupt zu treffen. Es ist nicht möglich den Instinkt an einer Seite zu ignorieren und an der anderen wahrzunehmen welcher Art hier die Gefahr von seiten ihres Lebensgefährten droht.

Auf sein Mail Anfang letzten Jahres hatten wir ihm geantwortet, dass er der Lebensgefährte unserer Mutter ist und wir darüberhinaus keinerlei Interesse an ihm haben. Damit dachten wir wäre die Sache erledigt. Wir hatten nicht nachgedacht weshalb er uns diese Botschaft überhaupt mitteilte, wenn er nichts von uns will. Vom heutigen Standpunkt war das extrem naiv. Wir wollten nichts Schlimmes glauben, weil wir so froh waren, dass er uns die sexuelle Gewalt unseres Vaters glaubt. Und seine Übergriffe sind anders als die unseres Vaters. Unser Vater hat uns und andere Frauen (und Mädchen???) bereits mit seinem Blick ausgezogen. Das tut H. nicht.

Aber es ist ebenso das Ausnutzen einer Ohnmachtssituation, die ja die Besuche bei unserer Mutter immer noch darstellen, um uns gegen unseren Willen zu berühren. Und da wir nicht in der Lage waren uns adäquat in der Situation zu wehren, deutete er es als Einverständnis? Wie gemein ist das?

Aber da kommt die Verwirrung auf, die uns nun seit 1 ½ Wochen quält. „Er hat uns ja nur über die Wange gestreichelt!“ …. Ja, aber wozu? So geht man doch nicht unter Erwachsenen miteinander um. Das ist definitiv eine viel zu intime Geste. Ich bin NICHT SEIN Kind und überhaupt kein Kind mehr. DAS IST EIN ÜBERGRIFF! Auch dass er uns umarmte, obwohl wir ihm nur die Hand reichten zum Abschied, war übergriffig. Ich erinnere genau, wie unser Körper steif wurde, ihn abwehrte. Selbst da hätte er ja aufhören können und sich entschuldigen. Das ist ja spürbar, wenn jemand nicht umarmt werden möchte.

Davor im Restaurant wurden Fotos gemacht und H. machte ein Foto von uns, das er uns zwei Tage nach dem Treffen zusandte. Seine Worte, außer dass er es gut getroffen hatte: „Jetzt hab ich dich sooft ich will!“ ….. Wie bitte? Was heißt er hat mich? Und schon gar nicht sooft ER will! Dass dieser Satz bereits ein Übergriff ist, haben wir gefühlt uns aber erst geglaubt, als ihn unsere Therapeutin bestätigte. Sie meinte es wäre sogar ein doppelter Übergriff. Uns zu besitzen und dann noch sooft er will. Das verstärkt den Übergriff noch. Wir fühlten uns ekelig und begannen nachzudenken, ob wir ewas falsch gemacht haben, ob wir schuld an den Übergriffen sind. War es ein Fehler auf irgendwelchen Schmäh von ihm zu reagieren? Ja sicher, im Nachhinein. Wir wollten einfach die Stimmung etwas auflockern. Und ja, da reagieren auch automatisch die Innenwesen, die eben auf Übergriffe und Trigger sofort anspringen. Wir haben es nicht gemerkt, wo es entgleist, wo wir uns wehren hätten müssen und wie?! Aber es ist NICHT UNSERE SCHULD!!!

Es tut so unendlich weh, dass wir das nicht können. Und das Schlimme ist, dass die Scham, dass es so ist, viel größer ist, als die Wut auf diesen Typen. Die können wir nicht fühlen. Da ist nur Angst! Angst bereits dieses blöde Mail zu beantworten. Dass er uns NICHT hat. Das einzige, was klar ist, dass wir uns nur noch alleine mit unserer Mutter treffen. Also ohne H. Mein Bruder und Familie können schon dabei sein. Aber H. wollen wir nicht mehr sehen!!!!! Und auch sonst keinen Kontakt mehr! Und wenn sie fragt weshalb, werden wir es ihr sagen! Oder sollen wir es ihr ohnedies sagen, auch wenn sie nicht fragt? Das wäre wohl klug, oder? Aber wenn sie es ignoriert, so wie auch unser Bruder am Heimweg unsere Aussage ignoriert hatte? Ist das dann nicht noch mehr retraumatisierend? Die Mutter, die selbst vergewaltigt worden war und es verdrängt sucht sich ja nicht umsonst solche Lebensgefährten. Einmal in der Therapie darüber sprechen war definitiv zu wenig!

Ich hoffe, wir können wütend werden und das hinter uns lassen. Wenn wir eine Bestätigung gebraucht hätten, dass die Vergewaltigungen in der Kindheit stattgefunden haben, dann haben wir sie bekommen. ….. Es ist alles nur peinlich. So ein Arsch.

14 Gedanken zu „Leben mit DIS/DDNOS #25: Retraumatisierung, Scham und Verwirrung“

  1. Wir wünschten, wir alle könnten aufhören uns zu schämen und so richtig, richtig wütend werden… Und doch ist es eben doch stets das selbe und wir kennen das gut und es tut uns leid für euch und wir sehen euch…

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  2. Ich kann leider auch nur die Bibel zitieren: „Den sie wissen nicht, was sie tun…“ Das soll keine Rechtfertigung sein. Es ist meiner Erfahrung nach tatsächlich einfach Dummheit, dass solche Menschen in so grausamer Weise einfach ihren Instinkten folgen und dann oft noch glauben, dieses Verhalten sei in irgendeiner Form gerechtfertigt.
    Ich kann Dich gut verstehen.
    Nach Wut, Angst und Scham ist bei mir am Ende nur noch Trauer geblieben (auch wenn oder vielleicht gerade weil ich immer nur wesentlich mildere Formen des Missbrauchs bzw. der Übergriffe erlebt habe) – Trauer über die seelisch-geistige und auch emotionale Armut in unserer Welt.

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  3. Wenn ich glaube, dass nichts hilft, hilft mir Robert Gernhardt:

    „Die Welt ist schlecht. Das Unrecht blüht, nimm Dir das Recht und tu den Schritt zum Ich vom Wir: Die Welt ist schlecht. Sei gut zu Dir.“ Robert Gernhardt (1937 – 2006)

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    1. Liebe Katrin,
      Vielen lieben Dank fürs Teilen deines Trostes. 🙂

      Wir sehen die Welt nicht als schlecht an. Wäre sie das, sähe sie noch viel schlimmer aus, denken wir. Wir denken, dass die Menschen zu dumm sind, die Komplexität des Lebens und ihres eigenen Handelns zu erfassen. Damit nehmen wir uns nicht aus.
      ….. Ich denke, dass Gernhardt ein anderes WIR meint als wir es tun. Wir meinen das wir im ICH, d.h. in diesem Körper. Er meint, so erfassen wir es, das WIR der Gesellschaft. So gesehen versuchen wir/ich so gut zu mir/uns zu sein, wie ich/wir es vermögen.
      herzliche Grüße
      „Benita“

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