Der Verlust der Worte

Alles, was für ihn je gezählt hatte, waren Worte. Etwas existierte erst wirklich, wenn es benannt und besprochen wurde.


Pascal Mercier „Das Gewicht der Worte“/S 20

Tränen überfallen uns, als wir dies lesen. Es ist so wahr, ja wahrhaftig. Es betrifft uns. Wir fühlen uns gesehen, obwohl der Autor uns nicht kennt.

Er hatte es sich nicht ausgesucht, es war ihm zugestoßen und von Anfang an so gewesen. Oft hatte er sich gewünscht, ohne Worte bei den Sachen zu sein, bei den Sachen und den Menschen und den Gefühlen und den Träumen – und dann waren ihm doch wieder die Worte dazwischen gekommen. Er erlebe die Dinge erst, wenn er sie in Worte gefasst habe, sagte er manchmal, und dann sahen ihn die Leute ungläubig an.

Pascal Mercier „Das Gewicht der Worte“/S 20

Nun, was Mercier hier weiter ausführt, trifft auf uns nicht mehr zur Gänze zu – oder doch?

Aktuell finden wir uns immer wieder in dem altbekannten Gefühl wieder, dankbar sein zu müssen, wenn überhaupt jemand mit uns spricht. Seit wir versuchten einer Freundin und einem Freund, die uns seit vielen Jahren begleiten, unseren Wunsch nahezulegen in Mehrzahl angesprochen zu werden, ist dieses Empfinden wieder da. Wir versuchten zu erklären, dass sie uns sonst nicht kennen, dass es eben nicht so ist, dass sie nur mit einer sprechen. Auch jetzt schon nicht. Die Ablehnung, das Erschrecken waren groß. Gehen unsere Freundschaften (wieder einmal) verloren, wenn wir aufhören uns anzubiedern und wir selbst sind? Nur damit jemand mit uns spricht, ist die Gefahr uns aufzugeben und nur beim Gegenüber zu sein groß, zu groß. So groß wie die Einsamkeit, die manchmal wie ein Fass ohne Boden wirkt. Bloß welche Freundschaft ist es, die derlei erfordert? Vielleicht verstehen wir das Konzept Freundschaft nicht? Vielleicht sind es bloß Bekannte? Vielleicht kann man mit uns nicht befreundet sein, wie es einst aus einer Freundin hervorbrach? Wir sind selten so beleidigt worden in unserem erwachsenen Leben. Aber vielleicht war es nur ehrlich?

Dabei war es lange so, dass wir einfach keine Worte mehr hatten, weil es niemanden gab mit der/dem wir sie wechseln hätten können. Zu viele unausgesprochene Worte, zu viel Unbenanntes ließ uns die Worte, die uns so wichtig sind, in uns ausradieren. Hoffentlich wird es niemals wieder so!

Es waren Bücher, die uns das Leben retteten und zwar in dem Sinne, dass sie uns davor bewahrten wahnsinnig zu werden oder uns umzubringen. Auch und vor allem als Kind. Nicht umsonst lernten wir autodidaktisch lesen bevor wir in die Schule kamen. In den Büchern, in der Schrift waren und sind die Menschen, die mit uns sprachen, die uns verstanden ohne uns zu kennen und sie sind noch heute dort zu finden.

Selbst wenn wir so viele Bücher, die wir besitzen noch nicht gelesen haben, weil oft die Kraft fehlt, oder die Ruhe, so ist ein Leben ohne von Büchern umgeben zu sein unvorstellbar. Sie beruhigen uns, haben eine besondere Schönheit, die im e-reader ihren Glanz verliert.

Vielleicht ist das erst das wirklich einsame Leben? Der Verlust der Worte ist es, der so einsam macht!

25 Gedanken zu „Der Verlust der Worte“

  1. Ich glaube, Ihr habt das Konzept „Freundschaft“ durchaus verstanden. Eigentlich bin ich mir sicher…
    Wenn jemand sagt, man könnte mit Euch nicht befreundet sein, so drückt er/sie für mich aus, daß er/sie eine Freundschaft mit Euch nicht erträgt, weil er/sie die Angst vor etwas für sie/ihn so „fremdartigen“ kaum erträglich ist. Das liegt dann aber nicht an Euch, sondern an ihr/ihm. Ihr seid, wie Ihr seid. Die anderen sind anders. Das gilt eigentlich für alle Menschen.
    Ich durfte einmal eine Frau mit DIS kennenlernen, und es war für mich überhaupt kein Problem, mit dieser Frau umzugehen und sie als das anzuerkennen, was sie ist. Aber die Menschen sind verschieden.
    Ich glaube, wirkliche Einsamkeit liegt nicht im Verlust der Worte, sondern im Verlust der Hoffnung. Und Hoffnung kann ich in jedem Beitrag erkennen, denn ich bis jetzt von Euch gelesen habe. Aber ich gebe zu: Es kann sich sehr einsam anfühlen, wenn man sich mit niemanden austauschen kann – gleich ob mit Worten oder auf irgendeinem anderen Weg.
    Aus eigener Erfahrung kann ich nur sagen: Lebt das, was für Euch richtig ist. Es mag sein, dass manche Menschen damit schlecht oder garnicht umgehen können, aber es werden andere da sein oder kommen, die es können. Ich habe es mit meiner „Eigenart“ auch so erlebt. Es wird Durststrecken geben, aber es wird auch immer wieder Menschen geben, die Euch Wasser anbieten werden – und unter jenen werden auch diejenigen sein, die Eure Freunde sind oder werden.
    Ich glaube, jeder Mensch ist es wert, geliebt zu werden – aber nicht unbedingt von jedem/jeder. Es braucht manchmal einfach Zeit, bis sich die richtigen gefunden haben, um sich gegenseitig genau das zu zeigen. Aber dann tragen wir uns gegenseitig über alle Abgründe des Lebens hinweg. Und jeder kann und darf so sein, wie er/sie ist.
    🍀💚🤗

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    1. Danke für deine tröstenden Worte, bloß hab ich die Erfahrung, dass Leute kommen, die uns so nehmen wie wir sind noch nicht gemacht. Also, vielleicht haben wir über den Blog welche kennengelernt? Sonst ist es uns noch nicht gelungen. Und wir entschuldigen uns bei allen, die sich um uns bemühen, die wir vom Blog kennen. Und ich weiß, dass sich auch schon andere um uns bemühten, aber so wie du schreibst, eine Freundschaft nicht ertragen, weil es zu „fremd“ ist und daher abstreiten, dass es uns so gibt, oder es irgendwie hinnehmen, aber es soll nicht auffallen, keine Konsequenzen haben im Kontakt. Da dürfen wir gar nicht sein. ….. Das macht einsam. Wenn die Hoffnung fehlt, ist es für uns nicht mehr einsam, dann ist es das Ende von Lebendigkeit. Es ist möglich tot zu sein, obwohl der Körper lebt. Das ist, wenn die Hoffnung fehlt. Einsamkeit ist nicht so extrem. Wenn die Worte fehlen, z.B. Da bleiben wir bei unserer Ansicht.

      Die Frage ob wir das Konzept Freundschaft verstehen, kommt eben daher, weil es uns noch nie gelungen ist Freund*innen zu haben, so wie wir es verstehen. Und so kann es sein, dass entweder wir zu hohe Ansprüche an Freundschaft stellen, bzw. zu überhöhte Vorstellungen davon haben, oder andere (die meisten Menschen) ebenso keine Freunde haben und einfach Bekannte so titulieren? ….. Wir wissen es nicht, was richtig ist? ….. Wenn’s da überhaupt ein „richtig“ geben kann? ….. Leben was für uns richtig ist versuchen wir nun, weil wir müde sind uns anzupassen und dies ohnedies nicht aus der Einsamkeit heraus führt. ….. Bislang fehlte uns der Mut dazu nicht gemocht zu werden, uns nicht anzupassen. …. Das ist ein neuer Weg, den wir gehen wollen. Möge es so kommen, wie du im letzten Absatz schreibst. Wir hoffen und gehen weiter.
      Herzliche Grüße 🤗🧡✨🙏
      „Benita“

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      1. Ich muss zugeben: Als ich die Frau mit DIS kennengelernt habe, war aufgrund der Situation der offene Umgang mit der Diagnose keine Frage. Auch war wegen der sehr häufigen Switches, die sie oft nicht kontrollieren konnte, ein Verbergen kaum möglich. Und es kam noch hinzu, dass sie einen offenen Umgang mit der Diagnose gewohnt war. All das hat mir einen respektvollen Umgang meinerseits mit ihr deutlich erleichtert. Und vielleicht hat es mir auch geholfen, dass ich selber erlebt habe, was es bedeutet am Rande der Gesellschaft zu stehen – aufgrund meiner eigenen Einschränkungen. Und ich muss auch zugeben, daß auch ich nur sehr sehr wenige Menschen gefunden habe, die in diesem Sinne zu mir „passen“ und manche auch wieder verloren habe – aber es gibt sie. Es gibt solche Menschen. Daher mein Glaube und meine Hoffnung. Auch für Euch.
        👍🍀💚

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        1. Danke, lieber Ankordanz. Ja, es hilft wohl durch die eigene Geschichte mit Einschränkungen manches zu verstehen.
          Auch wir haben immer einen offenen Umgang mit DIS gelebt, bloß sieht niemand die Switches. Wir haben uns auch selbst diagnostiziert und es dann von Experten bestätigen lassen. Die einzige, die es sieht ist eine DIS Frau, die wir über den Blog kennengelernt haben. Sonst wird es akzeptiert, aber niemand sieht das Leid, die Anstrengung dahinter. Im Umgang mit Fremden und im Alltag ist das ja angenehm als gesund behandelt zu werden und nicht schief angesehen. Bzw. es kommt vor, aber die Leute können es nicht einordnen. …. Bloß wir haben halt immer das Gefühl, dass die allermeisten Leute (auch sog. Freund*innen) unsere Bedürfnisse ignorieren (wie in der Kindheit). Als wären wir nicht existent. ….. Und zwar niemand von uns.

          Es tut nur gerade weh, scheinbar „Freundschaften“ neu ordnen zu müssen und vielleicht zu verlieren. Es ist nicht das erste Mal. Aber diesmal tut es besonders weh.
          Danke für deinen Zuspruch. 🤗💚🙏
          Herzliche Grüße
          „Benita“

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  2. Liebe Benita, Du weißt ja wir haben auch die Diagnose ‚Viele‘, aber inzwischen fühlen wir uns als Einheit – gehören zusammen und wir denken gar nicht mehr darüber nach.
    Eine Frage: Gibt es da nicht noch eine dritte Möglichkeit? Die, dass Du doch weißt, dass Ihr viele seid und es doch gar nicht wichtig ist, ob andere es wissen, Hauptsache Du weißt es oder? Liebe Grüße Melina

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    1. Liebe Melina,
      Nein, das geht eben nicht. Genau das haben wir Jahre gemacht und es hat uns geschadet. Es ist wie permanent Theater spielen und Selbstverleugnung für uns. Das bedeutet nicht, dass es für dich oder eine andere Person mit DIS nicht absolut passen kann. Wir denken, das ist sehr individuell, wie jede Art miteinander umzugehen. Und das kann sich ja auch wieder ändern???? Oder auch nicht, wer weiß? Aktuell ist es genau so, dass wir uns eine Mehrzahl-Anrede wünschen! Es geht uns ja darum gesehen zu werden und nicht nur für uns irgendetwas zu sein.
      Liebe Grüße
      „Benita“

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      1. Es gab mal eine Zeit, da war es mir auch seeeehr wichtig, dass gute Freunde uns als Viele sehen und auch denken, aber das scheint schwer zu sein für die sowas nachzuvollziehen und deshalb habe ich es ihnen dann halt ‚geschenkt‘ – sie durften auch so sein wie sie halt waren. Und jetzt ist es für uns gar nicht mehr wichtig. Braucht vielleicht Zeit.

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  3. Eine Freundin, die mir (zitternd) nach drei Jahren Kontakt „beichtete“, „Viele“ zu sein fragte ich darauf hin, nach kurzem Sprachlossein, ob der Plural dann nicht die angemessenere und angenehmere Ansprache sei?
    Das löste einen spontanen Wutausbruch aus, sie sei doch nicht schizophren. Autsch. Wieviel Angst muss sie viele Jahre darum gehabt haben. :((

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    1. Liebe Anna,
      Danke für deine Nachricht.
      Ja, das ist tatsächlich sehr individuell. Und wir hätten das vor einigen Jahren auch noch nicht gewollt. Das hat sich bei uns so entwickelt, weil wir merkten, dass wir uns nicht gesehen fühlen bzw. auch in Therapie immer mehr herausgekommen sind. ….. Es ist jetzt so für uns angenehmer und stimmiger. Vielleicht ändert sich das wieder,wer weiß?

      Es tut uns sehr leid, dass deine Freundin meinte, dass dies hieße sie sei schizophren und da vielleicht Angst hat? ….. Die Befürchtung hatten wir nicht. Aber es freut uns, dass sie dich hat. Wenn du dich auf sie einlässt ist das sehr viel für sie. 💚 …..
      Ganz liebe Grüße
      „Benita“

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  4. Da muss ich aber schon dagegenhalten: ein Gespräch mit einer freundlichen, klugen, interessanten Person ist immer eine Freude und ein Gewinn unabhängig davon, ob diese Person als „du“ oder als „ihr“ angesprochen werden möchte. Für mich ist das „ihr“ deswegen gewöhnungsbedürftig, weil ich ja nur eine Person wahrnehme. Wenn dieses „ihr“ aber ein Gefühl des Wahrgenommenwerdens bei euch erzeugt, dann wiegt das doch die kleine Unbequemlichkeit auf, beim Reden ein bissl aufpassen zu müssen. Wahrscheinlich wird mir diese Anrede nicht gleich durchgehend gelingen, aber ich nehme einmal an, dass es da anderen Leuten ähnlich geht. Übung macht die Meisterin 🙂

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    1. Liebe Myriade,
      vielen herzlichen Dank für die lieben Worte und dein Interesse. 💕 Und dem ersten Satz mögen wir unbedingt zustimmen. 😊 Auch wenn du uns lesend und kommentierend schon lange begleitest, so kennen wir einander persönlich noch nicht so lange und tatsächlich hatten uns ja deine Bemühungen um uns den Mut gegeben auch andere mit unserem Wunsch nach dem „ihr“ zu konfrontieren. Bitte verzeih, wenn du dich angesprochen gefühlt hast. Das stieß dann bei langjährigen Freunden scheinbar auf viel Überforderung. Es scheint ja bei allen so zu sein, dass sie eben nur EINE wahrnehmen, was den Grund hat, dass jene Situationen, wo mehrere wahrzunehmen wären ja von uns massivst kontrolliert und vermieden werden, um nicht aufzufallen. Das ist wirklich anstrengend. Der Sinn darin liegt weniger verletzt zu werden. Leider zieht Überforderung bei anderen mit uns oft eine abnehnende Reaktion nach sich, die wir dann vermutlich auch zu persönlich nehmen. Die Leute brauchen auch Zeit sich umzugewöhnen, umso länger sie uns kennen (glauben). …. Es wird sich weisen, wie sich all dies entwickelt. ….. Bloß dieser Satz im „Gewicht der Worte“, das war wie ein Dammbruch und musste nun verschriftlicht werden. Wir denken, dass uns dieses Buch wohl noch öfters Tränen entlocken wird.
      Ganz liebe Grüße
      „Benita“

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      1. Freut mich sehr, dass euch der Mercier auch gefällt. Mir ist er auch an vielen Stellen richtig unter die Haut gegangen.
        Was die Anrede betrifft, so beißt sich die Katze in den Schwanz: je größer eure Bemühungen die Vielheit nicht merken zu lassen umso schwieriger wird es für andere, an die Anrede in der Mehrzahl zu denken. Ich kann auch gut verstehen, dass es sich umso schwieriger gestaltet je länger die Freundschaft/Bekanntschaft schon besteht.
        Aber das Wichtigste war wohl, den Wunsch einmal zu formulieren und ihn an die Umwelt heranzutragen und damit wird es auch einfacher die Durchführung einzufordern.

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        1. Wir werden sehen, ob es einfacher wird. Aber ja, es war ein großer Schritt. 😊 …. Das ist halt über Jahrzehnte trainiert, dass es niemals, unter keinen Umständen auffallen darf, wie es uns geht, was los ist. Da hängen viele Drohungen dran. Mantra der Kindheit und Jugend: „…. Und wie’s da drinnen aussieht, geht niemanden etwas an!”

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